Ramana Maharshi - Wer bin ich?
Nan Yar
Da sich alle Lebewesen wünschen, immer glücklich zu sein, ohne Elend, da bei jedem die höchste Liebe zu sich selbst zu beobachten ist und da Glück allein die Ursache für Liebe ist, sollte man sich selbst kennen, um das Glück zu erlangen, das in der Natur des Menschen liegt und das im Zustand des Tiefschlafs, in dem es keinen Verstand gibt, erfahren wird. Dafür ist der Weg der Erkenntnis, die Frage "Wer bin ich?", das wichtigste Mittel.
Im Jahr 1901 saß ein junger Mann auf dem heiligen Berg Arunachala in Südindien, als ein Gelehrter mit brennenden Fragen über die Natur der Wahrheit zu ihm kam. Da er zu diesem Zeitpunkt nicht sprach, wurden die Antworten schweigend in den Sand geschrieben. Der junge Mann sollte der berühmte Heilige Sri Ramana Maharshi werden. Zwanzig Jahre nach dem ersten Interview, in den Anfängen des Ramana Ashrams, gab er selbst seine Antworten von damals heraus, die zur ersten Ashram-Publikation wurden, in der seine wesentlichen Lehren dargelegt wurden.
Diese Abfolge von Fragen und Antworten wird hier vorgestellt:
1. Wer bin ich?
Der grobstoffl iche [physische] Körper, der aus den sieben Grundelementen (Dhatus) [Körpergewebe] besteht, bin ich nicht. Die fünf kognitiven Sinnesorgane des Hörens, Tastens, Sehens, Schmeckens und Riechens, die ihre Objekte wie Klang, Berührung, Farbe, Geschmack und Geruch erfassen, bin ich nicht. Die fünf Organe des Handelns, also die des Sprechens, Fortbewegens, Greifens, Ausscheidens und Genießens, bin ich nicht. Die fünf „Lüfte des Lebens“, z.B. Prana [Lebenskraft], die jeweils die fünf unktionen des Atems ausüben, bin ich nicht. Selbst der denkende Verstand bin ich nicht. Die Unbewusstheit, die nur aus verbleibenden Eindrücken von Objekten besteht und in der es weder Objekte noch Funktionen gibt, bin ich ebenfalls nicht.
[Ich bin nicht der physische Körper, nicht die fünf Sinne, nicht der denkende Verstand. Ich bin auch nicht der unbewusste Verstand,mit seinen auch im Tiefschlaf zurückbleibenden Neigungen.]
2. Wenn ich dies alles nicht bin, wer bin ich dann?
Nachdem alles oben Erwähnte durch „nicht dies, nicht das“ verneint worden ist, bleibt einzig dieses Gewahrsein übrig – das bin ich.
3. Was ist das Wesen des Gewahrseins?
Das Wesen des Gewahrseins ist: Sein, Bewusstsein, Glückseligkeit.
4. Wann hat man die Erkenntnis des Selbst erlangt?
Wenn die Welt, die das Gesehene ist, entfernt worden ist, wird die Erkenntnis des Selbst, das der Sehende ist, geschehen.
[Wenn die Wahrnehmung der Welt nicht als wirklich gesehen wird, geschieht die Erkenntnis des Selbst, und das ist der Sehende.]
5. Kann es keine Erkenntnis des Selbst geben, solange die Welt noch existent ist (also als wirklich angesehen wird)?
Nein, kann es nicht.
6. Warum?
Der Sehende und das gesehene Objekt, das ist wie mit dem Seil, das für eine Schlange gehalten wird. Das Wissen über das Seil, also über das, was wirklich ist, wird erst erscheinen, wenn der falsche Glaube an die Schlange aufgegeben wird. Ebenso kann das zugrunde liegende Selbst erst dann erkannt werden, wenn der Glaube an die Wahrhaftigkeit der Welt entfernt worden ist.
7. Wann wird die Welt, die das gesehene Objekt ist, entfernt sein?
Wenn der Verstand, der die Ursache aller Wahrnehmungen und Handlungen ist, still geworden ist, wird die Welt verschwinden.
8. Was ist das Wesen des Verstandes?
Was „Verstand“ genannt wird, ist die dem Selbst innewohnende wundersame Kraft, die alle Gedanken erscheinen lässt. Außerhalb von Gedanken gibt es so etwas wie Verstand nicht. Also sind Gedanken das Wesen des Verstandes. Außerhalb von Gedanken gibt es kein unabhängiges Gebilde, das man Welt nennt. Im Tiefschlaf gibt es keine Gedanken, also auch keine Welt. Im Wach- und Traumzustand gibt es Gedanken, also auch eine Welt. Wie die Spinne ihre Fäden (für ihr Netz) aus sich selbst heraus spinnt und wieder in sich selbst zurückholt, so schafft der Verstand die Welt aus sich selbst heraus und löst sie dann wieder in sich selbst auf.
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Wenn der Verstand aus dem Selbst heraustritt, erscheint die Welt. Wenn also die Welt (als wirklich) erscheint, erscheint das Selbst nicht; und wenn das Selbst erscheint (strahlt), erscheint die Welt nicht [wird nicht als real angesehen].
Erforscht man beständig das Wesen des Verstandes, so endet dieser und es bleibt (als Rest) das Selbst zurück. Das, was als Selbst bezeichnet wird, ist Atman*. Der Verstand kann nicht alleine existieren, sondern ist immer von etwas Grobstoffl ichem [Physischem] abhängig. Der Verstand [das Ego] wird auch als feinstoffl icher Körper oder Seele (Jiva*) bezeichnet.
9. Welchen Weg der Erforschung sollte man nehmen, um das Wesen des Verstandes zu verstehen?
Was als „Ich“ in diesem Körper aufsteigt, ist der Verstand. Forscht man nach, wo im Körper dieser „Ich“-Gedanke
zuerst erscheint, entdeckt man, dass er im Herzen [Hridayam*, das spirituelle Herz] aufsteigt. Das ist der Ort, an dem der Verstand seinen Ursprung hat. Selbst wenn man immer nur „ich, ich“ denkt, wird man an diesen Ort geführt. Von allen Gedanken, die im Verstand auftauchen, ist der „Ich“-Gedanke der erste. Alle anderen Gedanken können erst nach diesem erscheinen. Erst nachdem das erste Personalpronomen [ich] erschienen ist, können das zweite [du] und dritte [er, sie] erscheinen; ohne das erste Personalpronomen kann es kein zweites oder drittes geben.
10. Wie wird der Verstand still?
Durch die Erforschung: „Wer bin ich?“. Der Gedanke „Wer bin ich?“ zerstört alle anderen Gedanken. Er ist wie der Stock, mit dem man bei einer Feuerbestattung das Holz am Brennen hält: am Ende verbrennt er selbst. Dann geschieht Selbsterkenntnis.
11. Wie kann man beständig an dem Gedanken „Wer bin ich?“ festhalten?
Wenn andere Gedanken auftauchen, sollte man diesen nicht folgen, sondern sich vielmehr fragen: „Wem erscheint dieser Gedanke?“ Es spielt keine Rolle wie viele Gedanken auftauchen. Sobald ein Gedanke erscheint, sollte man sich gewissenhaft fragen: „Wem ist dieser Gedanke erschienen?“ Die Antwort, die gewöhnlich aufsteigt ist: „Mir“. Wenn man daraufhin dieses „mir“ weiter erforscht und fragt: „Wer bin ich?“, dann kehrt der Verstand zu seiner Quelle zurück und der aufgetauchte Gedanke verstummt. Übt man beständig auf diese Weise, entwickelt der Verstand die Fähigkeit, in seiner Quelle zu verweilen.
Geht der feinstoffliche Verstand durch das Gehirn und die Sinnesorgane nach außen, erscheinen die grobstofflichen [physischen] Namen und Formen; bleibt er hingegen im Herzen, verschwinden Namen und Formen.
[weiter auf nächster Seite] Den Verstand nicht nach außen gehen zu lassen, sondern ihn im Herzen zurückzuhalten, nennt man „Nach-innen schauen“ (Antarmukha). Dem Verstand zu gestatten, das Herz zu verlassen, nennt man „Nach- ußen-schauen” (Bahirmukha).
Verweilt der Verstand im Herzen, wird das „Ich“ – die Quelle aller Gedanken verschwinden und das immer währende Selbst wird erstrahlen. Was immer man tut, sollte man ohne Ich- ezogenheit tun. Handelt man auf diese Weise, so wird alles erscheinen als sei es das Wesen Shivas* (Gottes).
12. Gibt es keine anderen Methoden, die den Verstand still werden lassen?
Es gibt außer der Selbsterforschung keine anderen gleichwertigen Methoden. Wird mit anderen Mitteln versucht, den Verstand zu kontrollieren, so scheint er zwar unter Kontrolle zu sein, wird aber wieder einsetzen. Durch die Kontrolle des Atems wird der Verstand auch still werden, doch bleibt er nur so lange still, wie der Atem kontrolliert wird. Setzt der Atem wieder ein, setzt sich auch der Verstand wieder in Bewegung und schweift erneut umher, angetrieben von verbliebenen Eindrücken [Gedanken]. Verstand und Atem haben den gleichen Ursprung. Das Wesen des Verstandes sind Gedanken. Sein erster Gedanke ist „Ich“, und das ist das Ego, die Ichheit. Wo die Ichheit entsteht, entsteht auch der Atem. Ist der Verstand still, ist auch der Atem unter Kontrolle, und wird der Atem kontrolliert, ist auch der Verstand still. [weiter auf nächster Seite] Dass der Atem im Tiefschlaf nicht aufhört, obwohl der Verstand still ist, geschieht nach dem Willen Gottes,
damit der Körper erhalten bleibt und andere Menschen nicht glauben, er sei tot. Wenn im Wachzustand und im Samadhi* [Einblick in das Selbst] der Verstand still ist, wird der Atem kontrolliert. Der Atem ist die grobstoffliche [physische] Form des Verstandes. Bis zum Zeitpunkt des Todes hält der Verstand den Atem im Körper. Stirbt der Körper, nimmt der Verstand auch den Atem mit. Daher ist die Übung der Atemkontrolle lediglich eine Hilfe, um den Verstand zu beruhigen (Manonigraha), sie wird ihn jedoch nicht zerstören (Manonasa*). Wie die Atemkontrolle sind auch Meditationen über die Formen Gottes, Rezitieren von Mantren* [heilige Klänge], Einschränkungen beim Essen und so weiter, nur Hilfsmittel, um den Verstand zu beruhigen. [weiter auf nächster Seite] Durch Meditationen über die Formen Gottes und durch Rezitieren von Mantren wird der Verstand auf einen Punkt fokussiert. Der Verstand wird immer umherschweifen. Legt man eine Kette in den Rüssel eines Elefanten, so wird er an dieser festhalten und ihr folgen. Ebenso wird der Verstand, der mit einem Namen oder einer Form beschäftigt ist, nur daran festhalten. Breitet sich der Verstand in Form unzähliger Gedanken aus, wird jeder dieser Gedanken schwach sein. Doch wenn die Gedanken sich ganz aufl ösen, wird der Verstand zielgerichtet und stark. Für einen solchen Verstand wird die Selbsterforschung einfach sein. Die beste diesereinschränkenden Methoden ist eine sattvische* [reine] Ernährung in bescheidenen Mengen. Folgt man dieser Methode, dann nimmt auch die sattvische Qualität des Verstandes zu, und das ist hilfreich bei der Selbsterforschung.
13. Die nachwirkenden Eindrücke (Gedanken) von Objekten erscheinen endlos wie die Wellen des Ozeans. Wann werden sie alle zerstört sein?
Die Gedanken werden zerstört, wenn die Meditation über das Selbst sich mehr und mehr vertieft.
14. Können die nachwirkenden Eindrücke von Objekten, die sozusagen aus unendlichen Urzeiten stammen, so aufgelöst werden, dass man als reines Selbst zurückbleibt?
Ohne diesem Zweifel „ist es möglich oder nicht?“ nachzugehen, sollte man unablässig an der Meditation über das Selbst festhalten. Selbst als großer Sünder sollte man sich nicht sorgen und klagen: „Ach, ich bin ein Sünder, wie kann ich gerettet werden?“ Man sollte vielmehr den Gedanken „Ich bin ein Sünder“ vollständig aufgeben und sich stattdessen intensiv ganz der Meditation über das Selbst widmen; das wird sicher zum Erfolg führen. Der Verstand ist nicht geteilt in einen guten und einen schlechten Teil; es gibt nur einen Verstand. Lediglich die nachwirkenden Eindrücke [Gedanken] lassen sich unterteilen in positive und negative Eindrücke. Wenn der Verstand unter dem Einfluss positiver Eindrücke steht, wird er „gut“ genannt; wird er von negativen Eindrücken beeinflusst, wird er als „böse“ angesehen.
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Man sollte dem Verstand nicht erlauben, zu weltlichen Objekten und Angelegenheiten anderer Menschen abzuschweifen. Wie schlecht andere Menschen auch sein mögen, man sollte keinen Hass gegen sie hegen. Ebenso wie Hass sollte auch Verlangen vermieden werden. Alles, was man anderen gibt, gibt man sich selbst. Wer wird anderen nichts geben, wenn er diese Wahrheit erst einmal verstanden hat? Wenn das eigene Selbst in einem aufsteigt, steigt alles auf; wird das eigene Selbst in einem still, wird alles still. In demselben Maß, in dem wir uns demütig verhalten, werden wir auch ein gutes Ergebnis bekommen. Ist der Verstand zur Stille gebracht worden, kann man überall leben.
15. Wie lange soll man die Erforschung praktizieren?
Solange es im Verstand Eindrücke von Objekten gibt, ist die Selbsterforschung „Wer bin ich?“ notwendig. Tauchen Gedanken auf, sollten sie am Entstehungsort sofort durch Erforschung zerstört werden. Wendet man sich ununterbrochen der Wahrnehmung des Selbst zu, so lange, bis es erkannt ist, reicht das allein aus. Solange es in der Festung Feinde gibt, werden sie sich bemerkbar machen. Werden sie zerstört, sobald sie entstehen, wird die Festung in unsere Hände fallen.
16. Was ist das Wesen des Selbst?
Das Einzige, was existiert, ist das Selbst. Die Welt, die individuelle Seele und Gott sind Erscheinungen darin, so wie Silberglanz in Perlmutt erscheint. Diese drei erscheinen gleichzeitig und verschwinden gleichzeitig. Da, wo es absolut keinen „Ich“-Gedanken gibt, ist das Selbst. Das wird „Stille“ genannt. Das Selbst an sich ist die Welt; das Selbst an sich ist „Ich“; das Selbst an sich ist Gott. Alles ist Shiva, das Selbst.
17. Ist nicht alles das Werk Gottes?
Die Sonne geht auf ohne Verlangen, ohne Willen, ohne Anstrengung. Allein durch die Gegenwart der Sonne erzeugt der Sonnenstein Feuer, erblüht der Lotus, verdunstet das Wasser, gehen die Menschen ihrem Tagwerk nach, um dann auszuruhen. So wie durch die Gegenwart eines Magneten die Nadel ausschlägt, bewirkt allein die Gegenwart Gottes, dass die Seelen Handlungen ausführen und dann ruhen – regiert von den drei (kosmischen) Funktionen [schöpfende, lebenserhaltende und aufl ösende] oder den fünff ältigen göttlichen Aktivitäten [vedantische Schöpfungstheorie] und in Übereinstimmung mit ihrem jeweiligen Karma [kosmisches Gesetz]. Gott selbst ist ohne Willen und ist keinem Karma unterworfen – genauso wie die Sonne nicht von den Handlungen der Welt beeinfl usst wird oder der alles durchdringende Raum nicht von den positiven und negativen Eigenschaften der anderen vier Elemente berührt wird.
18. Wer ist der größte Verehrer Gottes?
Gottes bester Verehrer ist der, der sich selbst ganz dem Selbst – also Gott – hingibt. Sich selbst ganz Gott hinzu geben, bedeutet, beständig im Selbst zu ruhen und dem Auftauchen von Gedanken an etwas anderes als das Selbstkeinerlei Raum zu geben. Welche Last wir Gott auch aufl aden mögen, er wird sie tragen. Da Gottes Allmacht alles bewegt, warum sollten wir uns ihr nicht beugen, statt uns ständig mit Gedanken zu plagen, was getan und wie es getan werden sollte oder was nicht getan und wie es nicht getan werden sollte? Wir wissen doch, dass der Zug alle Lasten trägt, warum also
tragen wir nach dem Einsteigen unser kleines Gepäck mühsam weiter auf dem Kopf, statt es abzusetzen und uns zu entspannen?
19. Was ist Nicht-nhaftung?
Die auftauchenden Gedanken unmittelbar an dem Ort zu zerstören, an dem sie entstehen, ohne dass etwas zurückbleibt, das ist Nicht-Anhaftung. So wie der Perlentaucher sich einen Stein um die Hüfte bindet, auf den Grund des Meeres sinkt und dort die Perlen holt, sollte jeder von uns mit Hilfe der Nicht-Anhaftung in sich hinabtauchen, um dort die Perle des Selbst zu fi nden.
20. Ist es Gott und dem Guru möglich, die Befreiung einer Seele zu bewirken?
Gott und der Guru an sich bringen die Seele nicht in den Zustand der Befreiung, sie zeigen lediglich den Weg zur Befreiung. In Wahrheit sind Gott und der Guru nicht verschieden. So wie die Beute aus dem Rachen des Tigers nicht mehr entfl iehen kann, so werden die gerettet und nicht verloren gehen, die vom gnadenvollen Blick des Gurus berührt wurden. Doch um Befreiung zu erlangen, sollte der von Gott oder dem Guru gezeigte Weg aus eigener Kraft gegangen werden. Sich selbst kann man nur mit den eigenen Augen der Erkenntnis sehen, nicht mit denen eines anderen. Braucht Rama die Hilfe eines Spiegels, um zu wissen, dass er Rama ist?
21. Ist es für den, der nach Befreiung strebt, notwendig, das Wesen der Prinzipien (Tattvas) [Vedantisches System, um die Welt zu unterteilen] zu untersuchen?
Jemand, der Müll wegwerfen will, muss ihn dafür nicht analysieren und prüfen, worum es sich handelt. Jemand, der das Selbst erkennen will, muss deshalb auch nicht die Prinzipien zählen oder ihre Eigenschaften untersuchen. Was er tun muss: alles zurückweisen, was das Selbst verhüllt. Die Welt sollte als ein Traum betrachtet werden.
22. Gibt es einen Unterschied zwischen Wachzustand und Traum?
Der Wachzustand dauert lange, der Traum nur kurz; einen anderen Unterschied gibt es nicht. So wie Ereignisse im Wachzustand real erscheinen, solange man wach ist, so wirken auch Ereignisse im Traum real, solange man träumt. Im Traum nimmt der Verstand einen anderen Körper an. Sowohl im Wachzustand wie im Traum erscheinen gleichzeitig Gedanken, Namen und Formen.
23. Wie nützlich sind Bücher auf der Suche nach Befreiung?
Um Befreiung zu erlangen, sollte der Verstand zur Stille gekommen sein – das ist es, was alle Texte lehren. Die end gültige Lehre ist also, dass der Verstand zur Stille gekommen sein muss. Hat man das einmal verstanden, gibt es keinen Grund mehr, endlos weiter zu lesen.
Um den Verstand zur Stille zu bringen, braucht man nur in sich selbst erforschen, was das eigene Selbst ist. Wie sollte diese Erforschung in Büchern geschehen? Das eigene Selbst sollte man durch das eigene Auge der Weisheit erkennen. Das Selbst ist innerhalb der fünf Schichten [Körper, Atem, Verstand, Intellekt, Unbewusstheit], Bücher sind außerhalb davon. Da das Selbst erforscht werden muss, indem man diese fünf Schichten ablegt, ist es nutzlos, danach in Büchern zu suchen. Es wird eine Zeit kommen, in der man alles, was man gelernt hat, wieder vergessen muss.
24. Was ist Glück?
Glück ist das eigentliche Wesen des Selbst, Glück und Selbst sind nicht verschieden. In keinem einzigen Ding auf der Welt ist Glück zu finden. Aufgrund unserer Unwissenheit aber glauben wir, Glück durch weltliche Dinge zu bekommen. Wenn der Verstand nach außen geht, dann erfährt er Leid. In Wahrheit ist es so, dass er bei Erfüllung seiner Wünsche an seinen Ursprungsort zurückkehrt und das Glück genießt, das das Selbst ist. Das Gleiche geschieht im Schlaf, im Samadhi, bei einer Ohnmacht oder wenn das ersehnte Objekt erlangt oder das ungeliebte entfernt wird: der Verstand richtet sich nach innen und erfreut sich an der reinen Glückseligkeit des Selbst. So wandert der Verstand ruhelos hin und her, abwechselnd verlässt er das Selbst und kehrt wieder zu ihm zurück. In der prallen Sonne brennt die Hitze, im Schatten der Bäume ist es angenehm. Jemand, der in der Sonne umhergeht, wird diese Kühle spüren, sobald er in den Schatten kommt.
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Wer immer wieder vom Schatten in die Sonne geht und dann wieder zurück in den Schatten, der ist ein Narr. Ein weiser Mensch bleibt immer im Schatten. Genauso ist es mit dem Verstand desjenigen, der die Wahrheit erkannt hat, er verlässt Brahman* [absolute Wirklichkeit] nicht mehr. Der Verstand des Unwissenden dreht sich in der Welt im Kreis, fühlt sich dabei unglücklich und kehrt, um wieder Glück zu erleben, für kurze Momente zu Brahman zurück. Doch das, was wir Welt nennen, sind in Wirklichkeit nur Gedanken. Wenn die Welt verschwindet, das heißt, wenn kein Gedanke mehr da ist, dann erlebt der Verstand Glück; doch wenn die Welt erscheint, durchlebt er Leid.
25. Was ist Einsicht durch Weisheit (Jnana Drishti)?
Stillbleiben ist, was Einsicht durch Weisheit genannt wird. Stillbleiben heißt, den Verstand im Selbst aufzulösen. Weder Telepathie, Hellsichtigkeit noch das Wissen von vergangenen oder zukünftigen Ereignissen sind Einsicht durch Weisheit.
26. Was ist das Verhältnis zwischen Wunschlosigkeit und Weisheit?
Wunschlosigkeit ist Weisheit; es gibt keinen Unterschied, sie sind identisch. Wunschlosigkeit bedeutet, dass der Verstand sich keinem Objekt mehr zuwendet. Weisheit bedeutet, dass kein Objekt erscheint. Mit anderen Worten: Nichtanhaftung oder Wunschlosigkeit bedeutet, nichts anderes zu suchen als das Selbst; das Selbst nicht zu verlassen, das ist Weisheit.
27. Was ist der Unterschied zwischen Erforschung und Meditation?
Erforschung bedeutet, den Verstand im Selbst festzuhalten. Meditation bedeutet, daran zu denken, dass das eigene Selbst Brahman ist: Sein – Bewusstsein – Glückseligkeit.
28. Was ist Befreiung?
Das Wesen unseres gefesselten Ichs zu erforschen, und seine wahre Natur zu erkennen, das ist Befreiung.
Nan Yar – Wer bin ich?
von Sri Ramana Maharshi
Ein klassischer spiritueller Text eines der größten indischen Lehrer – Sri Ramana Maharshi – und eines der bedeutendsten Bücher des 20. Jahrhunderts. Er enthält die Essenz seiner Lehren und ebnet den Weg zu einem klaren, praktischen Verständnis und zur Verwirklichung spirituellen Erwachens bzw. der Erleuchtung.
Das Buch zeigt einen Weg, wahres Glück in sich selbst zu finden. Diese liebevoll gestaltete Ausgabe verbindet den Originaltext mit berührenden Zitaten und wundervoll digital restaurierten Fotografien von Sri Ramana Maharshi.