Die Vorstellung, dass Erleuchtung kein besonderes Erlebnis ist, ist ziemlich
revolutionär, oder?
Ja und nein. Menschen sind erlebnisorientiert, weil sie das Gefühl haben,
dass es erforderlich für sie ist, etwas zu bekommen. Nach jahrelangem
Einsammeln verschiedenster Erlebnisse auf ihrem Weg sind sie total
darauf konditioniert, alles nur in Bezug auf ihr Erleben zu sehen, was sie
davon halten, wie sie sich damit fühlen. Aber Erleben ist begrenzt. Und
sehr stumm. Es lehrt sie überhaupt nichts. Es kann sie überhaupt nichts
lehren, solange sie nicht in der Lage sind, daraus etwas zu lernen. Wenn
die Menschen also anfangen enttäuscht zu sein von den Erlebnissen und
sich nach innen wenden, um das Selbst zu suchen, ist es ganz natürlich,
dass sie dort weiterhin nach Erlebnissen suchen. Aber ein paar wenige Menschen verstehen, dass die Suche nach
Erlebnissen, besonders nach Erleuchtungserlebnissen, nicht der richtige
Weg ist. Früher suchten viel mehr Menschen nach wahrhaftigem Verstehen, vielleicht hat es etwas mit dem Wesen der Gesellschaft zu tun, wer weiß? Sri Ramana hat die Selbsterforschung so hervorgehoben, weil
das Problem die Unwissenheit ist. Ein Erlebnis entfernt die Unwissenheit
nicht. Es wird durch Unwissenheit motiviert. Einzig Wissen entfernt die Unwissenheit. Und du erlangst Wissen, indem du erforschst oder
indem du gelehrt wirst. Jeder geht los und jagt nach Erlebnissen, aber die wirklich klugen Leute schalten das ab einem gewissen Punkt ab und streben nach wahrem Wissen.
 
 
 

Wie würdest du dieses Wissen ausdrücken? 

Die negative Art Selbstverwirklichung auszudrücken ist: „Ich bin nicht
der Handelnde. Ich bin nicht der Genießer.“ Sri Ramana erkannte
„Ich bin nicht der Körper“, da er sich immer noch ziemlich bewusst
war, als sein Körper „tot“ am Boden lag. „Ich bin nicht der Körper“ ist
gleichbedeutend mit „Ich bin nicht der Handelnde“, weil der Körper
der Handelnde ist. Sri Ramana wurde Jnani genannt, weil er während
dieses Erlebens das Wissen darüber erlangte, wer er wirklich war. Das
Erlebnis hörte nach einiger Zeit auf, aber das Wissen, wer er war, blieb
für immer. Es war da und wirkte immer im Hintergrund, ganz gleich
welche Erfahrung er gerade machte. Am Ende seines Lebens muss er
beträchtliche Schmerzen erlebt haben, aber sein Wissen um das Selbst
blieb unberührt. Er blieb unberührt, weil er das Selbst war. Doch der
Körper-Geist-Organismus litt.
Wenn du das wahre spirituelle Indien kennst, wirst du verstehen, dass,
obwohl Erleuchtung im Vergleich zur Gesamtzahl der Menschen auf
der Erde selten ist, es dennoch zehntausende „vollkommen“ Erwachte
weltweit und besonders in Indien gibt. Ich habe viele Jahre hier gelebt
und wurde in die höchsten Stufen indischer Spiritualität eingeführt,
als ich noch ziemlich jung war. Ich habe mit einigen Erwachten vom
gleichen Kaliber wie Sri Ramana zusammengelebt und habe persönlich
mehr als hundert Erwachte kennengelernt.

Das hört sich nach Ketzerei an und widerspricht der herkömmlichen Vor-
stellung über die Weisheit.

Ja, ich nehme an das tut es. Aber herkömmliche Vorstellungen über
die Weisheit sind oft falsch. Weisheit ist selten, aber nicht so selten wie
es dargestellt wird. Eine Quelle der Unwissenheit, die diesen Glauben
rechtfertigt, ist der Mangel des Egos an spirituellem Selbstvertrauen. Es
wehrt sich ständig gegen die Wahrheit und tut oft alles ihm Mögliche,
um all unsere Anstrengungen zu sabotieren, diese Wahrheit zu erlangen.
Um sich von der Arbeit daran abzuhalten, bildet es sich ein, dass nur
Übermenschen dazu imstande sind.
Sri Ramana erscheint mir eher wie ein Jnani als ein Yogi. Sri Ramanas Lehren können verwirrend sein, wenn jemand den
Unterschied zwischen Yoga und Vedanta nicht versteht, da er die
Sprache von beiden benutzte. Die Yoga-Sprache ist sehr bekannt und
da die meisten Menschen, die zu ihm kamen, für die Erleuchtung nicht
qualifiziert waren, hat er diese Sprache gewählt. Wenn jemand nicht
qualifiziert ist, bringt es nichts, wenn man versucht ihn zu erleuchten,
weder mit Worten noch mit Stille, denn er ist einfach nicht fähig zu
begreifen. Sri Ramana hat die Menschen hingegen dazu ermutigt sich tief zu reinigen, indem sie einen Weg verfolgen, der ganz natürlich Yoga-Disziplinen und die Hingabe an Gott beinhaltet.

Was meinst du mit „für die Erleuchtung qualifiziert“?

Viele Menschen aus dem Westen haben keine Ahnung, was Sadhana
(spirituelle Praxis) ist. Sie glauben tatsächlich, dass sie sich nur ein
Ticket nach Indien besorgen müssen, eine spirituelle Rundreise machen
und ein oder zwei Satsangs (Begegnungen in Wahrheit) besuchen
müssen und schon werden sie „erwachen“. Vielleicht werden sie ein
paar Erlebnisse haben, aber wenn sie dadurch „erwachen“, werden sie
mit Sicherheit wieder einschlafen, meistens deshalb, weil keine Sadhana
vorhanden ist. Es gibt auch Gurus, die selbst Sadhana praktiziert haben,
die aber ungern sehen, dass ihre Schüler sie praktizieren – ich nehme an
aus Angst sie zu verlieren. Du kannst viele Menschen in Tiruvannamalai
treffen, die bei Ramesh Balsekar waren und scheinbar die Vorstellung
mitbekommen haben, dass sie nicht „der Handelnde“ sind. Ihre Sadhana
ist: keine Sadhana. Warum? Weil ihnen gesagt wurde, dass es nichts
gebe, was sie tun könnten, denn man habe seine eigene Erleuchtung
nicht in der Hand. Es sei alles „Gnade“. Ich kann nicht sehen, warum
die Entschlossenheit, intensiv Sadhana auszuüben, nicht ebenso Gottes
Gnade sein soll – aber so stellt es sich dar.
Es stimmt, dass du nicht der Handelnde bist, aber dieses Du,
das nicht der Handelnde ist, ist das Selbst. Das Ego wird nicht zum
Nicht-Handelnden, indem es versucht nichts mehr zu tun. Diese

Art der Lehre ist sehr irreführend, denn sie ist für das Ego zurechtge-
schnitten. Sri Ramana stimmt in Bezug auf Sadhana ganz mit dem traditionellen

Vedanta überein. Reinheit ist mindestens genauso wichtig wie wahres
Wissen, vielleicht sogar wichtiger, denn ohne einen klaren Verstand
wirst du kein Wissen, Jnanam erlangen. Diese Lehre passt nicht so
gut zu den heutigen Vorstellungen. Die Menschen möchten alles auf
einem Tablett serviert bekommen. Das erklärt die Berühmtheit solcher
Shaktipat (vom Guru zum Schüler übermittelte Energie) Gurus wie
Amachi und Wundervollbringern wie Sai Baba. Um sie herum findet
man eine ganze Anzahl von Menschen, die tatsächlich glauben, dass der
Guru die Arbeit für sie erledigt!
Aber Sri Ramana hat keine Sadhana gemacht, um erleuchtet zu werden.
Das stimmt – aber danach hat er sicherlich Sadhana gemacht. Da er
bereits wusste, wer er war, hätte er nicht jahrelang in Höhlen sitzen
und meditieren müssen. Er hätte nach Hause gehen können, Iddlis
(Reisfladen) essen, die seine Mutter zubereitet hat, und Cricket spielen,
denn für ihn war alles gleichwertig. Aber das hat er nicht getan. Sondern
er hat sich dafür entschieden seinen Verstand zu reinigen. Sri Ramanas
Schönheit lag nicht in seiner Erleuchtung. Die war genauso wie
jede andere Erleuchtung, die es jemals gegeben hat. Seine Schönheit
bestand in seinem reinen Verstand. Er brachte seinen Verstand zu einer
leuchtenden Intensität, die außergewöhnlich strahlte – ein großer
Segen für ihn und alle, mit denen er Kontakt hatte. So einen Verstand
entwickelt man nur durch ernsthafte Sadhana oder Yoga. Die modernen
Gurus, besonders die sogenannten „Gurus der verrückten Weisheit“, die
ihren krassen Verstand zu genießen scheinen, lehnen es ab die Menschen
zur Weiterentwicklung zu ermutigen, weil sie nicht die reiche Freude
verstehen können, die in einem reinen Verstand entsteht.

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